Ist Führungskompetenz lernbar? Wird man als Leader geboren oder kann man es werden?
Artikel erschienen im Career Starter, 16. Ausgabe 2012.

Ist Führungskompetenz lernbar? Wird man als Leader geboren oder kann man es werden?

Von Frédéric Kohler, HR Consultant, Go Top SA, Genf

Seit rund zehn Jahren erklären die Unternehmen, sie bräuchten vor allem Führungspersönlichkeiten und weniger Manager. Dieser neue Anspruch ist verständlich, stimmt jedoch nur teilweise. Er wirft aber die Frage auf, weshalb Leadership im Studienkatalog der Absolventen von heute meist fehlt, obwohl doch die Universitäten und die Top-Hochschulen die Entscheidungsträger von Morgen ausbilden, indem sie ihnen die aktuellsten Management-Techniken beibringen. Bedeutet das, dass Führungskompetenz nicht lernbar ist?

Der zunehmende Bedarf an Leadership in den Unternehmen

Die immer grössere Komplexität des Alltags durch Ungewissheit, mangelnde Vorhersehbarkeit, fehlende Definierbarkeit und Kontrolle hat die Führungsetagen der Unternehmen in Ratlosigkeit gestürzt. Die klassischen Antworten des wissenschaftlichen Managements sind angesichts der Veränderungen, ihrer Häufigkeit und ihrer Heftigkeit veraltet. Die Unternehmen haben gemerkt, dass die Kompetenzen und das Profil ihrer Manager ihnen nicht erlauben, Komplexität und stürmische Zeiten zu bewältigen. Performance ist heutzutage nicht mehr so sehr das Ergebnis von Fach- oder Managerfähigkeiten als vom Zusammenspiel und der Mobilisierung sämtlicher Kompetenzen eines Unternehmens. In Firmen mit hoher Kunden­orientierung liegt der Mehrwert zudem nicht bei mehr Dienstleistungen, sondern bei mehr menschlichen Werten. De facto wird der Faktor Mensch zu einem der Schlüsselelemente für das Überleben und die Entwicklung. Teams werden anders geführt: Vom Coach zum Facilitator, zum Ausbildner ... Leader beschleunigen die Veränderung und tragen dazu bei, dem Handeln einen Sinn zu geben.

Aus diesem Grund wollen die Unterneh­men heute die Führungskompetenzen ihrer Manager entwickeln oder sogar Führungspersönlichkeiten anstatt Manager einstellen, um ihre Ressourcen besser und schneller mobilisieren zu können. Mit dieser Strategie liegen sie aber zum Teil falsch. Denn ein Leader ist nicht mehr wert als ein Manager und Manager-Leader an­stellen oder ausbilden zu wollen, bedeutet, Unvereinbares zu vereinen suchen, denn zwischen Leadership und Management gibt es einen gewissen Widerspruch.
Der steigende Bedarf der Unternehmen an Führungspersönlichkeiten, um die Her­ausforderungen der Gegenwart und der Zukunft zu meistern, ist nicht abzustreiten. Er spiegelt jedoch vor allem einen Mangel an Führungskompetenz auf Ebene der Geschäftsleitung wider, die viel öfter Managern anstatt Leadern anvertraut wird. Aus diesem Grund ist es dringend nötig, den Begriff Leadership neu zu definieren.

Manager vs. Leader

„Managers do the things right, Leaders do the right things.” Dieses Zitat von Peter F. Drucker zeigt, dass ein Unternehmen sowohl Manager als auch Leader braucht. Der Leader weiss, was getan werden muss, und ist in der Lage, die Teams zu motivieren, dies auch zu tun. Der Manager weiss, wie er die Aufgabe effizient und fürs Unternehmen auf optimale Art und Weise ausführen kann. Dieser wesentliche Unterschied zwi­schen den beiden führt dazu, dass Leader und Manager in Wirklichkeit fast nichts gemeinsam haben.

Ein Manager wird von seiner Hierarchie eingesetzt, dem Team demnach aufge­zwungen. Er verfügt über eine unwider­legbare Autorität, die sich aus seinem Status und seinen organisatorischen Befugnissen ergibt. Er ist auf die Aufgaben konzentriert und Garant für die Gegenwart. Er spornt das Team an, indem er die physischen Ressourcen und Kompetenzen gestützt auf die Vernunft nutzt. Der Manager ist ein Organisator, er koordiniert und kontrolliert das Team.

Ein Leader hingegen wird von den Mit­gliedern des Teams als Führer anerkannt. Seine Autorität ergibt sich aus seinem Einfluss, gestützt auf seine Funktion und eine Prägung der Beziehungen. Er ist auf die Personen konzentriert und der Garant für die Zukunft. Er reisst das Team mit, indem er dessen emotionale und gei­stige Ressourcen nutzt und zu den Herzen spricht. Der Leader ist ein Visionär, er bringt Vorschläge ein, prägt das Team und ist dessen zentrale Antriebskraft. Er ist es, der das Team auf die nächste Entwicklungs­ebene bringt.

Leadership kann als die Fähigkeit definiert werden, eine Gruppe in gegenseitigem Vertrauen und während einer begrenzten Zeit zu prägen und zusammen zu bringen, um ein gemeinsames Ziel zu erreichen.

Die Eigenschaften des modernen Leaders

Leadership zeichnet sich in erster Linie dadurch aus, dass jemand von seinem Team, seinen Kollegen, seinen Aktionären, dem Markt etc. als Leader angesehen wird. Ist es aber möglich, die Eigen­schaften zu definieren, die Leadership ausmachen? Sind sie konstant? Eines ist klar: Es gibt keinen typischen Leader. Wie sonst liesse sich die unglaubliche Vielfalt an unterschiedlichen Führungspersönlichkeiten, wie Steve Jobs, Winston Churchill, J. F. Kennedy, Gandhi, Mutter Theresa, Kofi Annan oder Martin Luther King erklären?

Leader zu sein heisst vor allem, die typisch­sten Eigenschaften seiner Gruppe selbst und in höherem Masse aufzuweisen. Aus diesem Grund kann jemand in einem bestimmten Kontext ein ausgezeichneter Leader sein, in einer anderen Epoche oder einem anderen Umfeld hingegen nicht als solcher erkannt werden. Darin liegt auch der Grund, weshalb Leadership in einem Team zwangsläufig zeitlich begrenzt ist.

Etymologisch und historisch gesehen ist der Leader (der Führer, Duce auf italienisch, Caudillo auf Spanisch) der charismatische Chef, derjenige, der führt und leitet. Heutzutage stimmt diese Definition jedoch nicht mehr ganz. Die Weiterentwicklung der Gesellschaft und ihres Bildungsniveaus sowie das Ende der alten Modelle haben dazu geführt, dass ein Leader heute jemand ist, der das Bedürfnis weckt, ihm nachzufolgen, und nicht mehr so sehr jemand, der andere führt oder anleitet.

Vision sowie die Fähigkeit, eine Gruppe dazu zu bringen, sich für die Umsetzung seiner Vision zu begeistern, sind Fähig­keiten, die nur ein Leader aufweist. Dennoch ist Führungskompetenz in erster Linie das Ergebnis von Verhaltensweisen und Werten, die einer Umgebung und einer bestimmten Zeitepoche entsprechen. Wenn sich die Zeiten ändern, ändert sich die Führungskompetenz mit ihnen. Leadership setzt sich demnach sowohl aus Konstanten als auch aus Variablen zusammen, was die Persönlichkeitszüge, aber auch was die Verhaltensweisen, also die Kompetenzen anbelangt.

Zahlreiche, ab den 1950er Jahren durch­geführte Studien (K. Lewin, Blake & Mouton) haben gezeigt, dass Leadership zeitunabhängige, universelle Eigenschaften umfasst:

Weitsicht

Ein Leader richtet sich nicht am Alltag aus, sondern hat das Unbekannte, das Entfernte, die Zukunft im Blick.

Aufnahme der schwachen Signale

Unter den unzähligen Informationen, die ein Leader erhält, erkennt er die Lösung, die den anderen entgangen ist.

Kühnheit und Innovation

Ein Leader geht Risiken ein, weil er nicht zögert, neue Wege zu beschreiten.

Selbstvertrauen und Begeisterung

Ein Leader ist sich sicher, dass er recht hat und Erfolg haben kann. Er vermittelt sein Vertrauen und seine Leidenschaft an die Gruppe weiter.

Vision

Ein Leader kennt sein Ziel und teilt seine Vision den anderen mit, er lässt sie daran teilhaben.

Entscheidungen und Verantwortung

Ein Leader trifft Entscheidungen, übernimmt die Verantwortung dafür und steht für die Konsequenzen gerade.

Energie und Ausdauer

Ein Leader hat Ausdauer, fürchtet sich nicht vor Problemen und ist in der Lage, lange durchzuhalten, um sein Projekt zu verwirklichen.


Neuere Studien (W. Bennis, B. Nanus) haben aber auch gezeigt, dass die Kompetenzen von Leadern situationsabhängig sind. Oft findet man bei diesen Personen folgende Eigenschaften:

Intuition

Ein Leader ist oft nicht in der Lage, rational zu erklären, weshalb er an eine bestimmte innovative Lösung glaubt.

Ethik

Ein Leader verfügt über starke persönliche Werte. Er ist ehrlich und gerecht, er hält all seine Verpflichtungen ein. Die vertrauensvolle Beziehung, die er zur Gruppe aufbaut, basiert auf der Kohärenz zwischen seinen Worten und seinen Taten.

Emotionale Stabilität

Ein Leader spricht aus seinem Innern heraus. Er kann Be­scheidenheit und Humor an den Tag legen. Er akzeptiert den Einfluss der anderen auf sich selbst und ist bereit, sich zu öffnen, anstatt sich zu verteidigen.

Vertrauen ins Team

Ein Leader setzt auf die Personen, er denkt in der „Wir“- und nicht in der „Ich“-Form. Er baut sein Team auf, denn ohne das Team kann er nichts erreichen.

Fähigkeit, Veränderungen zu leiten

Ein Leader weiss Veränderungen zu initiieren und zu begleiten. Er baut eine flexible Organisation und ein innovationsförderndes Umfeld auf.

Führungskompetenz entwickeln

Die Kompetenzen eines Leaders unter­scheiden sich, wie oben dargelegt, klar von denjenigen eines Managers. Schlimmer noch: Gute Leader sind äusserst schlechte Manager und umgekehrt. Die Hochschulen und Universitäten verzichten grösstenteils auf Leadership-Kurse, weil die Merk­male dieser Fähigkeit angeboren und nicht erlernbar zu sein scheinen. Kann man jemandem denn Selbstvertrauen, Intuition, Ethik oder emotionale Stabilität beibringen? Wie soll man nun aber als Student Führungskompetenz entwickeln?

Selbstverständlich ist es möglich, Kurse über die Kommunikationstechniken zu besuchen. Diese bilden die Grundlage für sämtliche zwischenmenschliche Beziehungen und werden zweifelsohne ihren Nutzen zeigen. Führungskompetenz ent­wickelt man aber eher, als dass man sie jemandem beibringt. Sie wird durch die Erfahrung geprägt, durch das persönliche, situationsgebundene Handeln. „Learning by doing“ ist angesagt, jede Gelegenheit ist willkommen, um ein Führungsverhalten zu entwickeln und es anzuwenden.
Sei es im Sport, in Vereinen, in der Politik, in der Familie, bei Jungunternehmen oder selbst im Rahmen von Unternehmens­praktika: Das wichtigste ist, jede Situation zu nutzen, um seine Fähigkeit, eine Gruppe zu prägen, systematisch zu überprüfen.

Dabei ist es jedes Mal wichtig, sein Ziel zu klären, seine Vision zu vermitteln, und die anderen dazu zu bringen, sich am Projekt zu beteiligen, das so zum gemeinsamen Projekt wird. Insbesondere gilt es, im Nachhinein Erfolge und Misserfolge zu analysieren, um daraus Lehren zu ziehen und sich weiterzuentwickeln.

Ein Leader zu sein heisst, talentierte Menschen um sich zu versammeln und sie dazu zu bringen, sich zu engagieren. Dafür muss man in erster Linie selbst eine geschätzte Person sein. Zum Schluss möchte ich deshalb allen zukünftigen Leadern folgende Ratschläge mit auf den Weg geben:

„Seien Sie stark – aber seien Sie nicht hart“

Es gibt einen Unterschied zwischen einer bewundernswerten Persönlichkeit und einem Diktator.

„Seien Sie sanft – aber seien Sie nicht schwach“

Freundlichkeit ist ein Zeichen für Edelmut. Lassen Sie aber nie zu, dass jemand Ihnen nicht genügend Respekt zollt.

„Zeigen Sie Humor – aber mit Respekt“

Durch Humor neigen sich die Menschen einem zu, gegenseitiger Respekt ist dabei aber unerlässlich.

„Seien Sie stolz auf sich – aber nicht arrogant“

Stolz schafft Vertrauen, Arroganz hingegen isoliert.

„Seien Sie bescheiden – aber ehrgeizig“

Ohne das Team erreichen Sie nichts, doch ohne Sie schafft auch das Team nichts.

„Seien Sie mutig – aber nicht leichtsinnig“

Ein Pionier zu sein, das Team auf neue Wege zu führen, heisst nicht, die anderen zu grossen Gefahren auszusetzen.

„Betrachten Sie die Dinge von der positiven Seite – aber betrügen Sie sich nicht selbst“

Sehen Sie in jeder Erfahrung das Positive, um voranzukommen. Arbeiten Sie aber an sich selbst, um das zu ändern, was verbessert werden kann.

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