Ehrliche Arbeitswelt: Wunschvorstellung oder Wirklichkeit?
Artikel erschienen im Career Starter, 14. Ausgabe 2010.

Ehrliche Arbeitswelt: Wunschvorstellung oder Wirklichkeit?

Von Raphaël Bennour, Projektleiter HR, Lombard Odier Darier Hentsch & Cie
Von offensichtlichen Missständen bis hin zu Anzeichen des Fortschritts ... die heutige Arbeitswelt verwirrt und lässt Fragen aufkommen. Kann man sich denn überhaupt noch auf sie verlassen? Sie ist ein Ort der Enttäuschungen, genauso aber des Lernens. Man muss ihr gleichzeitig mit Vorsicht und Optimismus entgegentreten. Wenden Sie sich von Abwertungen und Absichtserklärungen ab – und finden Sie im Folgenden einige Denkanstösse, um die Arbeitswelt und ihre Herausforderungen besser zu verstehen.

Manchmal verschlechtern sich Arbeitsbeziehungen so sehr, dass es zu Rechtsstreitigkeiten zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern kommt; in den meisten Industrieländern wurden in der Vergangenheit Ad-hoc-Gesetze und gerichtliche Instanzen (Arbeitsrecht, Arbeitsgerichte) geschaffen, um solchen Situationen einen Rahmen zu geben und sie zu bewältigen. Immer wieder hört man heutzutage von Skandalen aus der Welt der Firmenbosse, die in den Medien breitgewälzt werden (alle möglichen Arten von Vertrauensmissbrauch und von Veruntreuung von Gesellschaftsvermögen, „goldene Fallschirme“ für Manager multinationaler Unternehmen, obwohl diese offenkundig in finanziellen Schwierigkeiten stecken, als „unmenschlich“ verurteilte Auslagerungen der Produktionseinheiten). Der Abschluss einer höheren Bildung oder eines Diploms ist keine Garantie für Beschäftigung ohne Unterbrechung mehr. An verschiedenen Orten wurde Diskriminierung bei der Anstellung aufgedeckt. Es scheint, dass Formen beruflicher Sklaverei auf der Welt noch immer existieren, in Ländern, in denen die Vorstellung von „individueller Freiheit“ ein weit entferntes und unerreichbares Ideal bleibt (Kinder, die bereits sehr jung arbeiten müssen, um sich einen Lebensunterhalt zu verdienen, heimliche Werkstätten und Baustellen wie in Zeiten der Pharaonen, wo Arbeiter aus aller Herren Länder Tag und Nacht schuften und manchmal sogar ihr Leben riskieren). Schliesslich können Druck und Stress, wie ihn viele in bestimmten Berufen erleben, so hoch sein, dass Menschen keinen anderen Ausweg mehr sehen, als ihrem Leben ein Ende zu setzen ... Aus all diesen Gründen, die auf mehr oder weniger sichtbaren Wirklichkeiten basieren, die uns nahe sind oder auch weiter entfernt liegen, ist es legitim, sich über die Moral und die ethische Verpflichtung – mit anderen Worten über die Ehrlichkeit – der Arbeitswelt Gedanken zu machen.

So gerechtfertigt diese Hinterfragung auch sein mag, sie beinhaltet ein Paradox, denn eine wachsende Zahl von Unternehmen und Organisationen scheint Ansätze in Richtung einer erneuerten Form des Fortschritts (wahrscheinlich eine Wandlung der Ära der „Postmoderne“ ...) zu entwickeln: Ethik-Chartas, Übernahme sozialer Verantwortung, fairer Handel, Verpflichtung zum Schutz der Umwelt, stärkere Berücksichtigung der Gesundheit am Arbeitsplatz, Massnahmen zur Einteilung der Arbeitszeit, Zugang für Frauen zu Funktionen mit Verantwortung ... da gibt es doch einiges, was einen ganz schön verwirren kann! Was soll man denn nun davon halten? Kann man denjenigen, denen man seine Kompetenzen zur Verfügung stellt und für die man arbeitet, denn überhaupt vertrauen? Was darf man im Gegenzug für seine Arbeit erwarten?

Diese Fragen stellen sich besonders für Absolventen, die einerseits noch eine Menge vom Unternehmen zu lernen haben und sich andererseits selbst unter Beweis stellen müssen. Leider gibt es unzählige Beispiele von Berufseinstiegen, die zu zahl­reichen Enttäuschungen geführt haben. Deshalb ist es unerlässlich, sich von Anfang an gegen gewisse viel zu „glatte“ Reden zu wappnen.

Das heutige System ist oft von nicht eingehaltenen Versprechungen geprägt. Viele Business Schools erhöhen zum Beispiel ihren Bekanntheitsgrad durch die Veröffentlichung der angeblichen Gehälter ihrer Abgänger bei deren Erstanstellung. Damit locken sie Studenten an und danach werden sie beurteilt. Bei einem Teil dieser Schulen – den bekanntesten – entsprechen diese Angaben tatsächlich der Wirklichkeit. Doch die anderen streuen mit einem solchen Auftrumpfen mit fantastischen Zahlen den Leuten in den meisten Fällen leider bloss Sand in die Augen, was zu überzogenen Erwartungen und Anflügen von Stolz und Selbstüberschätzung führt, die von Personalfachleuten dann negativ aufgenommen werden. Abgesehen von der Frage der Entlöhnung ist es vor allem der Status der Person im Unterneh­men, der oft mit nicht eingehaltenen Versprechen verbunden ist. Sei es bezüglich der Aussichten auf persönliche Verwirklichung, auf Karriere oder auf interne Beförderung, die von den Universitäten und den Management-Aposteln verbreiteten Behauptungen entsprechen nicht – oder zumindest nicht immer – der Wirklichkeit im Unternehmen. Mit einem Diplom einer mehr oder weniger renommierten Institution in der Hand und dem Kopf voller ehrgeiziger Ziele erwarten etliche eine brillante Karriere (oder noch schlimmer, sie sind der Ansicht, sie hätten de facto eine Art „natürlichen Anspruch“ darauf), doch beim Einstieg in die Berufswelt muss man mit wenigen Ausnahmen wieder bei Null anfangen und obendrein noch relativ bescheiden sein: Trotz des hohen Werts der erworbenen Kenntnisse und der grossen Achtung, die man davor haben kann, bedeutet die erste Stelle meist, dass man nochmals von vorne anfangen muss – oder zumindest fast. Anerkennung, Beziehungsnetz und Legitimität ... alles muss erst aufgebaut werden. Wer sich dieser Diskrepanz bewusst wird, erlebt zahlreiche Ernüchterungen! Es kann schwierig sein, akzeptieren zu müssen, dass man nach mehreren Studienjahren immer noch viel zu lernen hat, insbesondere wenn man sich Menschen gegenüber sieht, die „vor Ort ausgebildet“ worden sind – Kinder angeblich ruhm­reicher Jahre, als man nicht unbedingt ein Hochschuldiplom benötigte, um eine Stelle zu finden. Da haben wir doch ein tolles Artefakt – vielleicht auch eine Lüge? – wie wir es heute erleben: Die Vervielfachung, die Redundanz und der Trend zum einfachen Zugang zum Hochschulunterricht – drei Dynamiken, die sich überschneiden und im Bologna-System ihren Ausdruck finden. Gibt es tatsächlich genügend Stellen für qualifizierte Arbeitskräfte, genügend Stellen im Dienstleistungssektor, um die Scharen an Studierenden mit Masterabschluss mit Arbeit zu versorgen, die jedes Jahr auf den Arbeitsmarkt drängen? Und ist dies nicht der Fall, ist es dann ehrlich, weiterhin neue Ausbildungen dieser Art ins Leben zu rufen, sie zu fördern und weiterzuentwickeln? Wer ist schuld?

Eine letzte Feststellung noch: Wir müssen uns damit abfinden, dass im Arbeitsumfeld wie in jeder menschlichen Gemeinschaft ein gewisses Risiko besteht, mit Situationen offensichtlicher Unehrlichkeit konfrontiert zu werden. Einige Beispiele: Aufgeblasene Stellenbeschriebe, bei denen das Pflichtenheft nicht der Wirklichkeit vor Ort entspricht, interne Macht- oder Positionierungsspielchen, wo die Aufrichtigkeit jedes Einzelnen in Zweifel gezogen wird, in den schlimmsten Fällen gar Anschuldigungen, Druck und Verleumdung (oder Mobbing, je nach aktuellster Terminologie). Es handelt sich hierbei um eine Wirklichkeit, mit der wir leben – ja uns manchmal regelrecht abfinden müssen, ohne uns aber darauf einzulassen, wenn wir vor einer solchen Situation stehen.

Zeichnen wir aber nicht unnötigerweise ein allzu düsteres Bild. Zum Glück scheint die Zahl der Unternehmen und Organisationen, in denen Ehrlichkeit angesagt ist, zu überwiegen. Man muss auch vertrauen können und, wenn das Vertrauen missbraucht wird, die erforderlichen Schlussfolgerungen daraus zu ziehen wissen. Das Wichtigste dabei ist, dass die Beziehungen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer stets von einer Dynamik der gegenseitigen Aufrichtigkeit geprägt sind. Genau wie bei den von den Wirtschaftswissenschaften beschriebenen impliziten Verträgen gilt: Wer sich dem Unternehmen zur Verfügung stellt, darf auch eine Gegenleistung erwarten. Dieses Gleichgewicht ist es, das ständig neu beurteilt und abgewogen werden muss. Ist es nicht mehr garantiert, muss die Beziehung sofort hinterfragt werden. Man sollte keine Sekunde zögern, einen Arbeitgeber zu verlassen, wenn die grundlegenden Bedingungen der Zusammenarbeit nicht mehr erfüllt sind. Dies ist eine Verantwortung, die jeder selbst trägt. Die allgemeine Grundregel ist: Nehmen Sie sich Zeit, um zu beobachten, aus der Distanz abzuwägen, sich Ihre eigene Meinung zu bilden. So können Sie einige gefährliche Klippen umschiffen.

Wird es uns jemals gelingen, unsere vergangenen und gegenwärtigen Fehler zu überwinden, um eine ehrlichere und integerere Arbeitswelt aufzubauen? Die Zeichen sind insgesamt relativ ermutigend. Viele Problematiken (allen voran die Gesundheit am Arbeitsplatz) werden heutzutage vom Staat und von zahlreichen Unternehmen mit viel Aufmerksamkeit untersucht. Zweifellos gibt es einen fruchtbaren Boden für die Entstehung von etwas Neuem, er muss nur noch mit Optimismus und gutem Willen gedüngt werden! Dennoch: Die Arbeitswelt von heute ist geprägt von Argwohn, Ängsten und vielerlei Frage­stellungen. Einige sind begründet, andere ein wenig aus der Luft gegriffen. Es gibt keine klare und eindeutige Antwort auf die Frage Ehrliche Arbeitswelt – Wunschvorstellung oder Wirklichkeit?,
wie sie hier gestellt worden ist. Die kleinen Schwindel und Hinter­hältigkeiten der zeitgenössischen Organisationen und derjenigen, die sie prägen, finden ihr Gegenstück in den kleinen Unehrlichkeiten derjenigen, die in ihre Ränge aufgenommen werden möchten. à propos ... – ein Hinweis auf eine allseits bekannte Praxis – kommt das „Verschönern“ des Lebenslaufes, die Überbewertung von Berufserfahrung, bis hin zur richtiggehenden Erfindung künstlicher Referenzen nicht den Übertreibungen gewisser Arbeitgeber über ihr Unternehmen gleich?

Wie A. Tschechow so schön sagte: „Wir alle wissen, was unehrliches Handeln ist, aber was Ehrlichkeit ist, das weiss niemand.“

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