Eine weibliche Perspektive
Artikel erschienen im Career Starter, 15. Ausgabe 2011.

Eine weibliche Perspektive

Von Liza Friart, Entwicklung und Ausbildung, Lombard Odier Darier Hentsch & Cie

Glaubt man Louis Aragon, ist die Frau „die Zukunft des Mannes“.
Dieses Zitat berührt bestimmt jede Frau, doch die Realität sieht oft ganz anders aus.

Abgesehen von wenigen Branchen, in denen Frauen als Führungspersönlichkeiten offen gefördert und geschätzt werden, scheint es mir, sind die heutigen Frauen „an der Macht“ im Grunde genommen richtige Männer. Jene, welche die von ihren männlichen Kollegen eingeführten Regeln verinnerlicht haben. Nicht nur das, sie ahmen diese Regeln selber nach und vermitteln sie weiter. Dieses Paradox hat auch meine Berufserfahrung klar geprägt.

Eine durch viel Ausdauer erreichte Karriere

Ich wurde zu hohem Verantwortungsbewusstsein erzogen und bemühte mich deshalb schon früh aktiv um die eigene Verwirk­lichung. Während der Gymnasialzeit konnte ich dank Kinderhüten und Modeln Geld sparen, um mein späteres Hochschulstudium in Kanada zu finanzieren. Meine Tätigkeit als Model gab mir die erste Gelegenheit, die Beziehung zwischen Frauen und Männern in der modernen Gesellschaft zu studieren. In der Mode-Branche werden die Frauen veredelt und auf ein Podest gehoben – dennoch ver­körpern sie definitionsgemäss die Frau als Lustobjekt. Die Frauen in den Zeitschriften dienen dazu, etwas zu verkaufen, erlauben das Aufzwingen von Klischees, gestalten und definieren ein ästhe­tisches Ideal im Dienste der Werbung. Unabhängig vom Model variieren diese Ideale je nach Epoche und es setzt sich jeweils ein anderes durch. Die Frau wird so zu einem Abbild der Kultur, ausschliesslich und eindeutig durch diejenigen bestimmt, die das Monopol der universellen Definition beanspruchen – die Männer.

Nach dem Studium arbeitete ich über 4 Jahre in einer Personalvermittlung. Mein Arbeitsumfeld bestand fast zu 100 % aus Männern. Unser Ziel war, ein Kundenportfolio aufzubauen, spezialisierte Rekrutierungsverfahren für das Bankenwesen anzubieten sowie natürlich einen möglichst hohen Umsatz zu erzielen. Oft arbeitete ich länger als meine Kollegen, um die besten Kandidatenprofile in der Schweiz und in Europa aufzuspüren. Gleichzeitig setzte ich meine Ehre darein, die Gefahr des Scheiterns einer Rekrutierung auf ein Minimum zu reduzieren. Mein Ziel dabei? Ich wollte für meine Kunden eine bevorzugte Kontaktpartnerin sein und dennoch ethisch einwandfrei vorgehen. Ich hatte Erfolg, doch im Gegensatz zu meinen männlichen Kollegen, die am Ende des Geschäftsjahres lautstark mit ihren finanziellen Ergebnissen prahlten, ihre Boni knallhart verhandelten und ihre Leistungen bis in die frühen Morgenstunden feierten, hielt ich mich zurück. Mein Ziel ging über die finanzielle Leistung hinaus: Ich wollte in erster Linie mustergültige Arbeit ausführen, die Anerkennung meiner Gesprächspartner und Kollegen gewinnen und – wichtig – mit mir selbst zufrieden sein können, weil ich gute Arbeit geleistet hatte – was oft erst nach vielen langen Stunden der Fall war.

Als man mir die Leitung eines Teams übertrug, hatte ich zwar meinen eigenen Führungsstil mit besonderem Schwergewicht auf der Service-Qualität und der Ethik, doch unbewusst ahmte ich vor allem den bestimmenden Führungsstil der Männer nach, die mich ausgebildet hatten. Ich hatte nicht genügend Abstand dazu und wandte das Schema an, das ich selbst erlebt hatte.

Ein richtungsweisendes Modell finden

Heute arbeite ich bei einer Privatbank in der Personalabteilung und verfüge über eine vielseitige Stelle, welche die Ausbildung, die Einstellung junger Talente und das Marketing an den Universitäten umfasst. Dieses neue Arbeitsumfeld ist völlig anders als alles, was ich vorher erlebt hatte: Fast 70 % der Angestellten sind Frauen. Am Anfang kostete es mich eine gewisse Anstrengung, mich anzupassen, weil die Regeln anders waren. In dieser Funktion fühle ich mich wohl. Sie hat mir ermöglicht, endlich zu verstehen, dass das, was zählt, nicht so sehr der Geschlechterunterschied ist, sondern vielmehr das Modell, an dem wir uns ausrichten, und vor allem, wie wir uns als Individuum von diesem unterscheiden. Als ich auf meine früheren Erfahrungen zurückblickte, merkte ich, dass mich sowohl Männer als auch Frauen weitergebracht und angespornt haben, mein Bestes zu geben. Heute spricht man von weiblicher Führung. Was versteht man darunter? Um zu versuchen, darauf eine Antwort zu geben, wäre ein ganzer Vortrag nötig. Zahlreiche, vor kurzem erschienene Artikel deuten interessanterweise darauf hin, dass einige multinationale Unternehmen ihre Führungsteams vermehrt mit Frauen besetzt haben. Die mittelfristigen Auswirkungen dieser Veränderung zu analysieren wäre sicher spannend, insbesondere um zu beobachten, welche ausschliesslich weiblichen Regeln eingeführt werden.

Bis dahin zählen meiner Meinung nach ungeachtet der ge­schlechtsbezogenen Überlegungen vor allem die Kompetenzen, die jeder Mensch in einem Unternehmen zur Verfügung stellt und seine Fähigkeit, andere zu inspirieren und eine eigene Sicht seines Berufes und seiner Verantwortlichkeiten zu vermitteln. Dadurch schreiben das Unternehmen und der einzelne Mensch gemeinsam ihre jeweilige Geschichte.

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