Ein Überblick über die wirtschaftliche Situation der Frauen auf dem Arbeitsmarkt in der Schweiz
Artikel erschienen im Career Starter, 15. Ausgabe 2011.

Ein Überblick über die wirtschaftliche Situation der Frauen auf dem Arbeitsmarkt in der Schweiz

Von Yves Flückiger, Professor für Wirtschaft, Universität Genf

Die Wahl von Simonetta Sommaruga in den Bundesrat im September 2010 hat die Schweiz international ins Rampenlicht gerückt. Mit vier Bundesrätinnen ist die siebenköpfige Schweizer Regierung eine der wenigen Exekutiven weltweit, die mehrheitlich aus Frauen zusammengesetzt ist. Lediglich 16,1 % der Minister-Ressorts der Welt werden heute von Frauen geleitet. Neben der Schweiz sind nur in zwei weiteren Ländern mehr als 50 % der Ministerposten von Frauen besetzt: in Finnland (58 %) und Norwegen (55,6 %).

Ungleichheiten immer noch aktuell

Dieses für die Schweiz schmeichelhafte Resultat vermag jedoch die häufig fehlende Gleichstellung zwischen Männern und Frauen auf dem Arbeitsmarkt von heute nicht zu verdecken. Sie zeigt sich nicht nur bei den Löhnen, sondern auch bei Anstellungen und Entlassungen. Leider existiert jedoch derzeit noch keine Studie, die das Verhalten der Schweizer Unternehmen den Frauen und Männern gegenüber bei der Zuteilung der freien Stellen oder bei Entlassungen systematisch analysiert hat.

Unterschiede gibt es auch bei der Arbeitslosenquote, der Dauer der Arbeitslosigkeit sowie der Wahrscheinlichkeit, eine neue Stelle zu finden. Ausserdem sind Frauen und Männer innerhalb der einzelnen Branchen ungleich verteilt und die Geschlechter haben nicht die gleichen Chancen, befördert zu werden oder eine Weiterbildung absolvieren zu dürfen. Schliesslich bestehen auch Ungleichheiten bei der Art der besetzten Stellen. In diesem Zusammenhang ist es interessant zu sehen, dass die Schweiz welt­weit in Sachen Teilzeitarbeit an vierter Stelle steht. Sie ist aber auch dasjenige Land, das diesbezüglich den grössten Geschlechter­unterschied aufweist: Die Frauen vereinnahmen fast 80 % der Teilzeitstellen in der Schweiz, im Gegensatz zu den Niederlanden, die bei dieser Rangliste an der Spitze stehen und wo solche Stellen nicht nur der weiblichen Bevölkerung vorbehalten sind.

Ungleichheiten und Diskriminierung: nicht zu verwechseln

Natürlich hat sich die Lage in den letzten Jahrzehnten verändert, zum Teil dank der höheren Anzahl an Frauen auf dem Arbeitsmarkt. 1970 machten die Frauen lediglich 34,1 % der Erwerbstätigen in der Schweiz aus. Dieser Anteil ist 1990 auf 38,7 % gestiegen, heute sogar auf 46 %. Doch vieles muss noch geleistet werden, bevor man wirklich von einer Gleichstellung der Geschlechter in der Schweiz sprechen kann. In dieser Hinsicht ist es wesentlich, klar zwischen Ungleichheit und Diskriminierung zu unterscheiden. Dies nicht nur, weil die beiden Begriffe in den Medien oft miteinander ver­wechselt werden, sondern auch, weil der Bekämpfung jeglicher Form von Diskriminierung absolute Priorität beigemessen werden muss. Mit anderen Worten: Es ist wichtig, einen Unterschied zwischen konstruktiven und destruktiven Ungleichheiten zu machen.

Erstere spiegeln die Unterschiede darin wieder, wie Einzelne mit gleichen Chancen umgehen. Nicht jede Person entscheidet sich zum Beispiel dafür, die Ausbildung nach der obligatorischen Schulzeit fortzusetzen. Solche Unterschiede bei der Ausbildungswahl führen zu Lohnungleichheiten, die auf keinen Fall abgeschafft werden dürfen, denn sie schaffen Anreize für eine bessere Ausbildung, was langfristig das wirtschaftliche Wachstum fördert. Destruktive Ungleichheiten hingegen kommen einer Diskriminierung gleich. Sie betreffen Privilegien von bereits privilegierten Personen und stellen ein Hindernis für das produktive Potential von weniger wohlhabenden oder benachteiligten Personen dar. Dies führt zu Ungleichheiten bezüglich der den Menschen gebotenen Chancen und beeinträchtigt wirtschaftliche Effizienz und Wachstum. Rein theoretisch ist der Unterschied zwar eindeutig, doch in der Praxis ist es schwieriger, diese zwei Formen von Ungleichheit voneinander zu unterscheiden. Für klare Debatten und effiziente Massnahmen ist eine solche Differenzierung aber unerlässlich.

Zur Beschreibung der ungleichen Verteilung von Männern und Frauen im erlernten oder ausgeübten Beruf, in Tätigkeitsbereichen, hierarchischen Positionen oder bezüglich der Beschäftigungsquote spricht man oft von Geschlechtersegregation. Dieser Begriff ist aber nicht zwingend diskriminierend. Ungleichverteilungen können verschiedene Entscheidungen in Sachen Ausbildung oder Beruf widerspiegeln, wobei der Arbeitsmarkt keine Diskriminierung gegenüber den Frauen ausübt. Die Unterschiede können jedoch auch Zeichen eines diskriminierenden Verhaltens seitens der Arbeitgeber sein, wenn man beobachtet, dass diese es systematisch ablehnen, Frauen einzustellen, selbst wenn sie die gleichen persönlichen Eigenschaften und Qualifikationen aufweisen wie die rekrutierten Männer.

Die Analyse der Daten der Eidgenössischen Volkszählung zeigt, dass die häufigste Form von Segregation auf dem Schweizer Arbeitsmarkt das Geschlecht betrifft. Sie ist deutlich höher als diejenige zwischen Schweizern und Ausländern oder zwischen verschiedenen Altersklassen (unter und über 50-Jährige). Besonders interessant ist die Erkenntnis, dass es grössere Unterschiede zwischen Männern und Frauen bei den erlernten Berufen als bei den tat­sächlich ausgeübten Berufen gibt. Dies scheint ein Hinweis dafür zu sein, dass der Arbeitsmarkt in der Schweiz dazu beiträgt, die bei der „Wahl“ des erlernten Berufes oder der absolvierten Ausbildung erkennbare Ungleichverteilung abzuschwächen – einer Wahl, die auch heute noch stark geschlechterabhängig ist. Die Untersuchung der Daten der letzten drei Volkszählungen ergibt, dass die Geschlechtersegregation bei der Ausbildung in der Schweiz zwischen 1970 und 2000 praktisch unverändert geblieben ist. Dies deutet darauf hin, dass noch immer Rollenbilder existieren, die das Bildungssystem sich bemühen sollte zu überwinden.

Vorreiterrolle des Staates

Die Daten der Volkszählung bestätigen zudem, dass Frauen in den Chefetagen deutlich untervertreten sind. Diese „Segregation“ ist in der Privatwirtschaft stärker. Um eine echte Gleichstellung zu gewährleisten, müsste man in der Privatwirtschaft 17,2 % der jenigen Frauen befördern, die dort in höheren Positionen tätig sind. Bei den staatlichen Stellen wären es nur 13,5 %. Hingegen ist es schwierig, herauszufinden, ob diese ungleiche Verteilung auf die individuellen Eigenschaften und Qualifikationen der Männer und Frauen zurückzuführen ist, oder ob sie eine diskriminierende Beförderungspolitik seitens der Arbeitgeber widerspiegelt.

Um diese Frage zu beantworten, haben wir im Rahmen einer am Observatoire universitaire de l’emploi der Universität Genf durchgeführten Studie eine Schätzung der hierarchischen Verteilung vorgenommen, die sich ergäbe, wenn die gleichen Beförderungskriterien für Frauen und Männer angewandt würden. So haben wir die (simulierte) Zahl der Frauen ermittelt, die man bei Nicht-Diskriminierung auf jeder Hierarchie-Stufe antreffen müsste. Daraus hat sich ergeben, dass, wenn die in der Privat­wirtschaft angestellten Frauen nach den gleichen Kriterien wie die Männer befördert würden, die Geschlechtertrennung gemessen an der hierarchischen Position um 53 % reduziert würde. Die verbleibenden 47 % sind auf Persönlichkeitsunterschiede zurückzuführen. Die Studie hat schliesslich und wenig überraschend auch gezeigt, dass der staatliche Sektor weniger diskriminiert als die Privatwirtschaft. Dies bekräftigt die Pionierrolle, die der Staat in Sachen Gleichstellung der Geschlechter spielt.

Die Tatsache, dass bei der Beförderung oder bei den Löhnen diskriminiert wird, ruft bei Beobachtern manchmal ein gewisses Erstaunen, ja sogar Skepsis hervor. Warum sollten die Arbeitgeber das Risiko eingehen, in irgendeiner Form zu diskriminieren, wohlwissend, dass das Bundesgesetz über die Gleichstellung von Frau und Mann diese Art von Verhalten ausdrücklich ver­bietet und bei Zuwiderhandlung Geldstrafen vorsieht? Tat­sächlich kommt es äusserst selten zu Diskriminierungen aufgrund einer absichtlichen Haltung des Arbeitgebers. In den meisten Fällen entstehen diese durch gänzlich unbegründete Vorurteile gegenüber Frauen, z. B. dass sie häufiger fehlten als Männer, oder durch einen gewissen Opportunismus der Arbeitgeber, die
manchmal einen Nutzen daraus ziehen, dass Frauen ihre Berufs­erfahrung bei Vorstellungsgesprächen nicht immer so gut zur Geltung bringen wie Männer.

Und der Verdienst?

Betrachtet man die Löhne, so sind auch heute noch Unterschiede zwischen Männern und Frauen festzustellen, selbst wenn sich diese Differenzen in den letzten fünfzig Jahren verringert haben. 1960 verdienten Männer laut der Lohn- und Gehaltserhebung vom Oktober durchschnittlich 32 % mehr als Frauen. 1998 lag der Unterschied gemäss derselben statistischen Quelle noch bei 28 %. Die Daten der Schweizerischen Lohnstrukturerhebung (LSE), die seit 1994 alle zwei Jahre bei einer Auswahl von heute mehr als 44’000 Unternehmen durchgeführt wird und nahezu 1,7 Millionen Angestellte abdeckt, deuten darauf hin, dass der Medianlohn der Männer gegenwärtig 24 % höher liegt als derjenige der Frauen. Es bestehen jedoch bedeutende regionale
Unterschiede. In Genf zum Beispiel, dem Kanton mit dem geringsten Geschlechterunterschied, liegt die Differenz nur bei 10,6 %!

Diese Unterschiede lassen sich durch Faktoren wie Bildungsgrad, Anzahl an Jahren Berufserfahrung oder Dienstalter von Männern und Frauen auf dem Arbeitsmarkt oder innerhalb des Unternehmens erklären. Solche Ungleichheiten sind nicht zwingend problematisch. Sie können aus wirtschaftlicher Sicht sogar effizient sein, indem sie zum Beispiel die jungen Arbeitnehmer – Männer und Frauen – anspornen, Ausbildungen zu absolvieren, um mehr zu verdienen. Ungleichheiten, die auf Diskriminierung zurückzuführen sind, sind hingegen unfair und ineffizient. Deswegen muss hier Abhilfe geschaffen werden.

Die für die Gesamtwirtschaft durchgeführten Analysen, die natürlich nicht so präzise sind wie die innerhalb eines Unterneh­mens möglichen Untersuchungen, zeigen, dass ca. 40 % aller Lohnunterschiede auf einer möglichen Diskriminierung gründen. Heutzutage gibt es leistungsfähige Tools, um die Gehaltspolitik der Unternehmen zu analysieren, mögliche Probleme zu erkennen und vor allem, diese zu korrigieren. Eine solche detaillierte Untersuchung wird von „equal-salary“ (www.equalsalary.org) durchgeführt. Bei erfolgreichem Bestehen erhält das betreffende Unternehmen eine Zertifizierung, welche ihm eine gerechte Lohn­politik bescheinigt. Ein vielversprechender Weg, nicht nur, um die Situation der Frauen auf dem Arbeitsmarkt zu verbessern, sondern auch, um die Produktivität der Firmen, die sich der Untersuchung unterziehen, zu erhöhen, und erst recht um das Wachstum der gesamten Wirtschaft anzukurbeln.

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