Das überraschende Comeback der Kompetenzen
Artikel erschienen im Career Starter, 15. Ausgabe 2011.

Das überraschende Comeback der Kompetenzen

Von Frédéric Kohler, Head of Learning & Development, BNP Paribas (Suisse) SA

Das Diplom ist noch immer ein Papier, das eine Ausbildung bescheinigt, doch es tritt heutzutage angesichts der Art und der Qualität der dem Inhaber tatsächlich vermittelten Kompetenzen in den Hintergrund.

Das Diktat der Financial Times-Rangliste

Eine Vergangenheit, die gar nicht so weit zurückliegt

„Hast du gesehen, die GSB Grenoble hat die EM Lyon überholt!“ Ich erinnere mich noch gut an diesen Ausruf meines Kollegen von L’Oréal bei der Publikation der Rangliste der 50 besten Business Schools der Financial Times im Jahr 2005. Dazu muss gesagt werden, dass diese Rangliste für mich in meiner damaligen Funktion, Verantwortlicher für die Einstellung von Hochschulabsolventen, mehr als nur ein Indikator war – sie war geradezu unumgänglich. Niemand hätte es gewagt, die Vorherrschaft der zuoberst platzierten Hochschulen anzuzweifeln. Unter den europäischen Einrichtungen galt der Rang im FT-Ranking so viel wie die Michelin-Sterne bei den Gourmet-Restaurants.

Die Schweiz mit dabei

Aufgrund der Globalisierung des obersten Managements ihrer multinationalen Unternehmen und deren HR-Politik hat auch die Schweiz diesen nach der Jahrtausendwende entstandenen Trend übernommen. Der Beitritt zur Bologna-Erklärung über die gegenseitige Anerkennung der Diplome und die Unterzeichnung der bilateralen Verträge mit der EU über die Personenfreizügigkeit haben diese „Einführung“ des Diplomkults zusätzlich verstärkt.Auf stillschweigende Art und Weise existierte übrigens auch in der Schweiz bereits eine Rangliste: St. Gallen und Lausanne für Wirtschaftswissenschaften, Zürich und Lausanne mit den ETHs, Genf für internationale Studien, Freiburg für Rechtswissenschaften, Neuenburg für HR etc. Demnach konnte man nicht nur die in der Schweiz ansässigen ausländischen Firmen, sondern auch die grossen Schweizer Unternehmen dabei beobachten, wie sie anfingen, auf den Absolventenmessen und über Personalvermittler nach den Absolventen der FT50 zu suchen.

Warum dieses Diktat akzeptieren?

Weshalb wird eine solche Rangliste anerkannt? Auf diese Frage sind verschiedene Antworten möglich.

  • Zunächst einmal war das Diplom anfangs das einzige Mittel, um die Fähigkeiten der Absolventen zu ermitteln, da sie ohne Berufs­erfahrung keine praktischen Kompetenzen vorweisen konnten.
  • Ein weiterer Grund war die Angst der Personaldirektionen vor Fehlentscheidungen. Eine „objektive“ externe Vorauswahl hatte für sie eine beruhigende Wirkung.
  • Schliesslich förderte das Beziehungsnetz der ehemaligen Absolventen das eigene Diplom und die Lobbyarbeit der Hochschulen, welche die Rangliste der FT wie eine Trophäe herumzeigten, zeigte ebenfalls ihre Wirkung.

Überraschende Auswirkungen

Schleichende Diskriminierung

Das Diplomdiktat hat dazu geführt, dass gewisse Unternehmen eine völlig unvernünftige und diskriminierende HR-Politik verfolgen. So rekrutieren einige zum Beispiel ihre zukünftigen oberen Kader nur noch aus den Kreisen der Top50 der europäischen Hoch­schulen und Universitäten, ohne sich zu sehr um die tatsächlich erworbenen Kompetenzen zu scheren. Dem aufgrund des Prestiges des Diploms angenommenen Potenzial wird gegenüber den eigentlichen Qualitäten des Bewerbers der Vorzug gegeben.

Masterabschlüsse an den prestigeträchtigen Hochschulen

Die Studierenden hatten diese Strategie rasch erkannt und ihre Wahl des Hochschulstudiums entsprechend angepasst. Immer mehr Studierende begannen, ein „leichtes“ Bachelorstudium in der Nähe des Zuhauses ihrer Eltern zu absolvieren und erst für das Masterstudium eine renommierte Hochschule zu besuchen. Immer öfter sieht man Studierende, die ihr Studium zunächst in Genf beginnen, um dann, mittels einer Aufnahmeprüfung, einen Abschluss in St. Gallen zu erhalten.

Und die Schweizer Diplome?

Die Schweiz hat lange Zeit unter ihrer „Outsider“-Position gelitten: Ausserhalb von Bologna, ohne Business School, mit nur einem winzigen Prozentsatz an Hochschulstudierenden, Opfer von in Zeiten der Globalisierung unverständlichen Rivalitäten zwischen den Kantonen. Mit Ausnahme der HSG, der zwei ETHs und in geringerem Ausmass des Instituts für internationale Studien in Genf genoss keine Schweizer Hochschule oder Universität einen internationalen Ruf. Trotz aller in letzter Zeit umgesetzten und noch immer unternommenen Bemühungen tun sich die Schweizer Diplome im Zeitalter der Personenfreizügigkeit noch schwer, den entsprechenden europäischen Abschlüssen die Stirn zu bieten. Auch dieses Jahr erscheinen nur St. Gallen (4.) und Lausanne (35.) in der Rangliste der FT (Kategorie Master in Management; 16. und 56. Rang in der Kategorie European Business School).

Diplome – Medaillen, die einen Teil ihres früheren Glanzes verloren haben

Der klassische Beschäftigungszyklus (lernen, können, beherr­schen und innovieren, die Motivation verlieren) hat sich in nur einem Jahrzehnt von 5 auf 3 Jahre verringert. Die Arbeitgeber streben deshalb immer mehr danach, Personen einzustellen, deren Kompetenzen sofort anwendbar sind. Hinzu kommt, dass das durchschnittliche Dienstalter stark abgenommen hat und die Stellen in allen grossen Unternehmen immer stärker spezialisiert sind. Wer alles auf seinen Abschluss setzt, obwohl dieser letztendlich nur ein Leistungspotenzial im Sinne eines hypothetischen ROI (Return on Investment) darstellt, geht demnach ein Risiko ein.

Deshalb legt man heute mehr Gewicht auf die Art der Ausbildung, sowie darauf, den Studierenden sofort einsetzbare Kompetenzen zu vermitteln. Das Diplom und der Name der Hochschule oder der Universität sind in den Hintergrund gerückt. Der Erfolg der Berufs­ausbildungen auf Hochschulniveau, berufsbegleitend oder Vollzeit (wie sie die FHs anbieten), zeigt dies im Alltag, denn all diese Studenten verfügen bereits vor Studienabschluss über eine Anstellung, während das zum Beispiel 2008 und 2009 für die renommierte Ingenieur-Hochschule INSA in Lyon bereits nicht mehr der Fall war. Das Diplom ist noch immer ein Papier, das eine Ausbildung bescheinigt, doch es tritt heutzutage angesichts der Art und der Qualität der dem Inhaber tatsächlich vermittelten Kompetenzen in den Hintergrund.

Kompetenzmanagement ist wieder „in“

Erprobte Abschlüsse

Eine der grossen Veränderungen der letzten fünf Jahre besteht darin, dass die heute auf den Arbeitsmarkt drängenden Absolventen über Berufserfahrung verfügen. Noch vor wenigen Jahren witzelten die Personalverantwortlichen untereinander über folgende unmögliche Anzeige: „Suche Master-Absolvent, drei­sprachig, 5 Jahre Berufserfahrung, max. 25 Jahre alt, für Stelle als Produkt­verantwortlicher, hohes Gehalt ...“ Heute gäbe es auf eine solche Stellenanzeige viele Bewerber. Die Praxis mehrerer Praktika (selbst wenn die Bedingungen manchmal zweifelhaft sind), der berufsbegleitenden Ausbildungen und der Auslandssemester hat dazu geführt, dass das Diplom nicht mehr das einzige Beurteilungskriterium darstellt. Im Gegenteil: Es tritt in den Hintergrund (auf dem Lebenslauf ebenfalls) und zählt weniger als eine erfolg­reiche berufliche (oder sogar internationale) Erfahrung.

Stellen und Kompetenzen – alte Bezugssysteme werden neu entdeckt

Gleichzeitig haben die Unternehmen die Vorzüge des Stellen- und Kompetenzmanagements neu entdeckt. In den 80-90er Jahren konnte man glauben, es genüge, ein kluger Kopf zu sein und sich angemessen zu verhalten, um jede Stelle zu ergattern (natürlich mit ein wenig Zeit- und Ausbildungsaufwand). Doch die anhaltende Krise zu Beginn des neuen Jahrtausends und die dadurch vielerorts erfolgten Personalkürzungen haben die Personaldirektionen wieder zu den Grundlagen zurückkehren lassen. Sie haben ihre Bezugssysteme für Stellen und Kompetenzen aktualisiert. Die Ressourcen sind knapp, deshalb müssen sie „hic et nunc“ angemessen sein.

Normale Anstellungsverfahren

Das Ergebnis davon ist die Rückkehr zu sehr viel klassischeren Anstellungsverfahren. Heute ist das Verfahren für Absolventen gleich wie für die anderen Bewerber: Man misst das Gefälle zwischen den für die Stelle erforderlichen Kompetenzen und den vom Bewerber erworbenen Fähigkeiten, man beurteilt, ob der Bewerber die richtige Motivation für die Stelle verfügt und achtet darauf, ob die persönlichen Werte des Kandidaten mit der Unternehmenskultur übereinstimmen.

Schlussfolgerung

Aus dieser Entwicklung (Revolution?) können Studierende einige nützliche Lehren ziehen. Für die Arbeitgeber bleibt das Diplom ein Indikator für das Potenzial eines Absolventen. Sein Handels­wert auf dem Arbeitsmarkt hängt aber in erster Linie von den im Laufe der akademischen Ausbildung erworbenen Schlüsselkompetenzen ab. Welche Wahlfächer Sie belegt haben, ob Ihr Werdegang stimmig ist, welche Unternehmenspraktika Sie absolviert haben – all das bestimmt Ihre Spezialität und Ihren Fachbereich. Kommt es zur Entscheidung, zählen Kompetenzen mehr als Titel. Diese Devise galt bereits früher im Karrieremanagement, heutzutage kommt sie auch im Anstellungsverfahren zur Anwendung, selbst bei den Absolventen.

Mit anderen Worten: Ein Studierender, der im Privatbankenbereich tätig werden möchte, sollte sich unbedingt für einen spezialisierten Masterlehrgang an der wirtschaftswissen­schaftlichen Fakultät in Genf entscheiden und nicht für eine Handelshochschule in Paris: Das Know-how wird nicht durch den Namen (und noch weniger den Standort) einer Hochschule bestimmt. Natürlich muss die richtige Ausbildung auch noch existieren, von hoher Qualität sein und durch Firmenpraktika im Ausland ergänzt werden, bei denen man sich das Know-how und die Verhaltensweisen aneignen kann, die einen beim Vorstellungsgespräch von den anderen Bewerbern abheben.

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