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Hat der Krieg um Talente (noch) nicht stattgefunden?
Artikel erschienen im Career Starter, 17. Ausgabe 2013.
Hat der Krieg um Talente (noch) nicht stattgefunden?
Von Frédéric Kohler,
Leiter des Institut Supérieur de Formation Bancaire (ISFB) Lehrbeauftragter an der HEIG-VD
Zu Beginn des neuen Jahrtausends verging keine Woche, ohne dass ein Artikel das Thema des ÑWar for Talentsì behandelte. Diese, absichtlich kriegerisch gef‰rbten Begriffe, gaben den Ton an und man ging davon aus, dass die ÑJagdì auf die Besten schwierig sein w¸rde, weil eine Kombination von demografischen und wirtschaftlichen Faktoren zu einer Verknappung gewisser Kompetenzen f¸hren w¸rde. Wo stehen wir zehn Jahre danach? Ist das Thema noch aktuell?
Was ist eigentlich ein „Talent“?
Descartes meinte einst: „Nichts auf der Welt ist so gerecht verteilt wie das Talent. Denn jedermann ist überzeugt, dass er genug davon habe.“ In Wirklichkeit sagte er dies über den Verstand, doch der Spruch passt genauso gut zum Talent.
Sobald dieses heikle Thema angesprochen wird, fühlt sich tatsächlich jeder gleich betroffen. Zunächst gilt es deshalb, genauer zu bestimmen, was im vorliegenden Kontext mit Talent gemeint ist. Der angekündigte Krieg um Talente bezog sich auf keinen Fall auf die Gesamtheit der Mitarbeiter – was aber nicht heisst, dass nicht jeder Mensch Talent hat.
Der Begriff Talent wird oft als Synonym für Begabung verwendet, darf im vorliegenden Fall aber nicht im gängigen Sinne des Wortes verstanden werden. Ein talentierter Mensch ist nämlich eine begabte Person, die sich aber zusätzlich eine aussergewöhnliche technische Fähigkeit angeeignet hat. Talent ist demnach eine besondere Fähigkeit, die einen einzelnen Menschen auszeichnet und ihn von allen anderen unterscheidet.
Talent muss als Potenzial verstanden werden, als eine noch nicht eingesetzte Kompetenz und deshalb auch als Versprechen einer zukünftigen Leistung. Dies ist der Hauptgrund, weshalb jemand nicht mehr als Talent betrachtet wird, wenn er ein gewisses Alter überschritten hat, selbst wenn er vielleicht das Gefühl hat, er sei am Höhepunkt seiner Leistungsfähigkeit angelangt.
Nicht alle Talente schliesslich sind Gegenstand dieser „Jagd“, sondern nur die „Top-Talente“, also Personen mit äusserst hohem Leistungspotenzial. Man geht davon aus, dass die Zielgruppe der verschiedenen „Talent Programs“ der Unternehmen in Wirklichkeit nur 5-10% aller Mitarbeiter umfasst.
Berücksichtigt man all diese Tatsachen, so versteht man leichter, was sich hinter dem Krieg um Talente verbarg: ein hartnäckiges Wetteifern unter Konkurrenten, um die Besten der Besten anzulocken und zu behalten.
Das Paradigma des „War of Talents“
Der Krieg um Talente der 2000er Jahre ähnelte der jedes Jahr stattfindenden Pferdeauktion der Jährlinge im französischen Nobelseebad Deauville: Es handelte sich um mehr oder weniger vernunftgelenkte Wetten von Investoren auf vermutete Potenziale. Man konnte beobachten, wie Unternehmen Talente und insbesondere Absolventen regelrecht „hofierten“: Sponsoring von Konzerten oder Sportanlässen, massive Präsenz an den Absolventenmessen oder gar die Finanzierung von Studentenvereinigungen an den Schweizer Hochschulen.
Warum dieser plötzliche Rush? Dafür gibt es nur eine Erklärung: die unausweichliche und baldige Verknappung der Ressource.
Zwischen 1998 und 2001 und später zwischen 2003 und 2007 erlebten die „alten Volkswirtschaften des Westens“ einen Wachstumssprung sowie eine sich abzeichnende Kompetenzknappheit aufgrund eines manchmal abschätzig als „Rentnerschwemme“ bezeichneten Phänomens: dem unmittelbar bevorstehenden und massiven Abgang der kurz nach dem Zweiten Weltkrieg geborenen Senioren. Auf diese Pensionierungen folgten Altersklassen mit weniger zahlreichen Vertretern.
Die westlichen Unternehmen, insbesondere die Grosskonzerne, aber auch die KMU und die öffentlichen Verwaltungen, befürchteten, sie würden nicht mehr über die nötigen qualitativ hochstehenden Ressourcen zur Umsetzung ihrer ehrgeizigen Businesspläne verfügen und entwickelten deshalb regelrechte Schlachtpläne, um Top-Talente anzulocken.
Wie kommt es nun aber, dass die einzelnen Absolventen, Fachleute und Kader nur ganz wenige positive Auswirkungen dieses Trends spürten?
Eine Vorhersage, die sich nicht verwirklicht hat
Zunächst einmal, weil die Krise gegen Ende 2007 die ursprüngliche Hypothese in Frage stellte. Die ehrgeizigen Entwicklungspläne der Unternehmen wurden zurückgeschraubt. Kein Wachstum gleich kein Bedarf an zusätzlichen Ressourcen. Kombiniert mit der schrittweisen Erhöhung des Rentenalters erwiesen sich die Vorhersagen über die starke Zunahme der Rentner als falsch.
Ausserdem beschleunigte sich die Globalisierung und damit einhergehend die Auslagerungen. Dadurch wurde der Bedarf an Kompetenzen zunächst in Regionen mit starker demografischer Entwicklung transferiert. In jüngerer Zeit finden aber auch Auslagerungen zwischen einem wohlhabenden Nordeuropa und einem ausgebluteten, von Arbeitslosenquoten über 25% geprägten Südeuropa statt, wobei von letzteren auch gut qualifizierte Arbeitnehmer betroffen sind. Die Leiterin einer Genfer IT-Firma erklärte mir vor kurzem, sie vergebe ihre Aufträge heute nicht mehr an Zulieferer aus Indien, sondern an solche aus Portugal.
Eine weitere Entwicklung: Die Zahl der europäischen Absolventen, die ihr Glück aus Mangel an örtlichen Angeboten im Ausland suchen, ist höher denn je zuvor.
2012 erlebten wir europaweit keinen Krieg um Talente, sondern stattdessen einen rapiden Anstieg der Arbeitslosigkeit und immer grössere Schwierigkeiten beim Zugang zum Arbeitsmarkt für junge Menschen, einschliesslich jener mit Spitzenabschlüssen. In Spanien waren im
September 2012 25% der Universitätsabsolventen zwischen 25 und 30 arbeitslos oder hatten bloss einen „1000-Euro-Job“.
Der Sonderfall Schweiz
In der Schweiz hat diese Situation andere Auswirkungen. Da unser Land vom Zweiten Weltkrieg grösstenteils verschont wurde, blieb der Babyboom Ende der 1940er Jahre aus und damit auch die Masse an Pensionierungen Ende der 2000er Jahre. Hinzu kommt ein höheres Rentenalter als in den meisten unserer Nachbarländer. Aus all diesen Gründen bekam die Schweiz bisher von der angekündigten demografischen Katastrophe nur wenig zu spüren.
Dies umso weniger, als die Attraktivität der Schweiz für Talente aus aller Welt noch nie so stark war, sei es wegen des überbewerteten Schweizer Frankens oder aufgrund unseres jüngsten Beitritts zum Schengen-Raum. Der Fachkräftemangel hat also keine wirklichen Auswirkungen auf das neutrale Hevetien gezeigt, wo seit zehn Jahren massiv und völlig legal Talente ins Land geholt werden.
Schliesslich war der Finanzplatz Schweiz, noch bis vor Kurzem mit einem Anteil von 5.1% an der gesamten Schweizer Wirtschaft, traditionell einer der Sektoren, in welchem sich der Talentemangel am stärksten zeigte. Nach fünf Jahren Krise und einem damit einhergehenden Personalabbau hat aber der Druck dort deutlich abgenommen. Dies verstärkt den Eindruck umso mehr, der berühmte Krieg um Talente sei noch viele Lichtjahre entfernt.
Und doch ...
Sollte man nun daraus schliessen, dass dieser „Krieg“ gar nie stattfinden wird?Zwei verschiedene Studien aus dem Jahr 2011 (Adecco und Manpower) zeigen, dass in den USA trotz einer rekordhohen Arbeitslosenquote bereits in zahlreichen Wirtschaftsbranchen ein Mangel an Talenten herrscht, und dass sich die Situation in den nächsten 15 Jahren wohl noch verschärfen wird. Am Ende würde ein ungeheuerlich hohes Defizit von insgesamt 20 Millionen fehlender Fachkräfte erreicht.
Laut denselben Studien erklärte zudem ein Drittel der Arbeitgeber weltweit, sie hätten bereits heute Schwierigkeiten, Bewerber zu finden. Japan, die USA und Deutschland sind vom Talentemangel am stärksten betroffen. Aber auch Länder mit hohen Arbeitslosenquoten wie Frankreich stehen nicht viel besser da. Eine von Manpower in der Schweiz durchgeführte Studie ergab, dass 28% der befragten Firmen vom Fachkräftemangel betroffen sind. Verglichen mit 2011 (46%) hat dieser Anteil stark abgenommen.
Das Jahr 2012 erwies sich als widersprüchlich, und auch die Schweiz entging diesem Trend nicht. Trotz des wirtschaftlichen Abschwungs, trotz der zunehmenden Arbeitslosigkeit steht der „War for Talents“ wieder auf der Tagesordnung. Natürlich ist er im Bereich der Privatbanken, der pharmazeutischen Forschung oder in der Uhrenindustrie nicht überall gleich hart. Doch mit den ersten Anzeichen für ein Ende der Krise taucht die Problematik der Verknappung der Talente wieder auf. In der IT-Branche, in Industrie, Chemie, Energie, Hydraulik und im Bauwesen herrscht bereits ernsthafter Mangel.
Sich besser auf diese neue „Schlacht“ vorbereiten
Die grossen internationalen Konzerne taten das Richtige, als sie ihre spezifischen Programme zum Anlocken und Anbinden der Talente rasch wieder aus der Schublade hervorholten. In der Schweiz sind sich die meisten grossen Unternehmen der Bedeutung ihres „Employer Brandings“ zum Anlocken von Talenten zunehmend bewusst. Die Unternehmen müssen Strategien für ein Personalmarketing ausarbeiten, um ihr Image als attraktive Arbeitgeber zu stärken. In einer 2011 bei 151 börsenkotierten europäischen Firmen durchgeführten Umfrage setzten 65% der befragten Personalverantwortlichen den Punkt „Talente anlocken und behalten“ zuoberst auf die Liste ihrer Anliegen. Zieht man den Kreis enger, ist die Aufmerksamkeit, mit der die jährliche Rangliste der beliebtesten Schweizer Arbeitgeber bedacht wird, ebenso aussagekräftig. Fazit: Die Arbeitgeber sorgen sich heute wieder um ihre Attraktivität, denn es muss ihnen von neuem gelingen, die Besten anzulocken.
Eine weitere Neuheit in den Unternehmen ist das „Forced Ranking“. Diese Praxis wurde von McKinsey als Theorie erarbeitet und wird unter anderem bei der UBS angewandt. Sie besteht darin, die Leistung der eigenen Mitarbeiter nicht mehr bloss einmal pro Jahr zu beurteilen, sondern sie zusätzlich in fünf Kategorien vorgegebener Grösse einzuteilen: 10% der Mitarbeiter erbringen eine als unzureichend beurteilte Leistung, 20% sind verbesserungsbedürftig, 40% zeigen eine gute Leistung, 20% eine ausgezeichnete Leistung und 10% eine herausragende Leistung. Die Mitarbeiter der letzten Kategorie werden als Talente betrachtet, die im Hinblick auf Gehalt, Weiterbildung und Beförderung unbedingt verwöhnt werden müssen, damit sie nicht in Versuchung geraten, ihre Dienste der Konkurrenz anzubieten.
Gemäss seinen Erfindern ermöglicht dieses System nicht nur, Talente zu erkennen und ans Unternehmen zu binden, sondern es schafft auch einen gesunden Wetteifer, der sämtliche Mitarbeiter dazu anregt, das Beste zu leisten. HR-Fachleute hegen da mehr Zweifel. Sie sind der Ansicht, dass das System diejenigen Mitarbeiter entmutigen oder demotivieren könnte, die nicht zu den Besten gehören. Ausserdem glauben sie, es fördere individuell ausgerichtete Strategien zu Lasten gemeinsamer und langfristiger Ziele.
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass der „War for Talents“ tatsächlich stattfinden wird, ja, dass er bereits begonnen hat. Doch wer zu den Gewinnern gehören will, darf sich nicht ausschliesslich auf seine „Seltenheit“ verlassen. Ihre persönliche Attraktivität und Ihre Beschäftigungsfähigkeit erhöhen sich mit der Stärkung Ihres Potenzials, mit der Entwicklung und Aufwertung Ihrer Kompetenzen. Dazu ist der Erwerb von seltenem oder äusserst spezifischem Know-how erforderlich, aber auch das Sammeln von Erfahrungen, die Sie weiterbringen und von Ihren Konkurrenten abheben. Die jungen Generationen haben die neue Lage gut erfasst. Ein Grossteil von ihnen bevorzugt diejenigen Arbeitgeber, die sich an ihrer Entwicklung beteiligen, und nicht diejenigen, die am meisten zahlen. Ältere Arbeitnehmer tun sich jedoch noch schwer mit diesem Vorgehen. Ihr „Handelswert“ wird in Zukunft immer stärker von Ihrer Fähigkeit abhängen, ein Leistungspotenzial anbieten zu können, und weniger von Ihrem ursprünglichen Diplom oder sogar von Ihrer Erfahrung. Nur dank dieser Fähigkeit wird es Ihnen gelingen, aus dieser neuen „Schlacht“ siegreich hervorzugehen.